Zwischen 1938 und 1945 konnten Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) und sein Sohn Funakoshi Yoshitaka 船越義豪 (1906–1945) eine eigens für ihr Karate erbaute Übungshalle nutzen. Ihr Name ist heute weithin bekannt – "Shōtōkan", "Gebäude der Kiefernwoge". Weniger bekannt sind dagegen die technischen Inhalte des im historischen Shōtōkan ausgeübten Karate.
Für seine Öffentlichkeitsarbeit nutzte der Shōtōkan u. a. Tageszeitungen. Einige der vom Shōtōkan in Zeitungen veröffentlichten Mitteilungen sind für uns wertvolle Quellen, um uns über dessen technische Inhalte zu informieren. So erschien am 18. November 1939 (Shōwa 14) in der "Morgensonnenzeitung" (Asahi Shinbun) die folgende Ankündigung einer gemeinsam von Mitgliedern des Shōtōkan und Mitgliedern verschiedener universitärer Karate-Klubs durchgeführten Veranstaltung. Da dieser Artikel 1939 erschien, wird darin der Name 松濤館 noch "Shōtōkwan" gelesen, und nicht wie heute üblich "Shōtōkan". In meiner Übersetzung nutze ich die Umschrift "Shōtōkan", um Unklarheiten zu vermeiden.
Gemeinsames großes Treffen für eine Karate-Vorführung
Das vom Verdienten der Wiederbelebung des Karate-Dō, dem ehrwürdigen Funakoshi Gichin, geleitete Haupt-[Dōjō] Shōtōkan und der von den Karate-Klubs der Keiō-Universität, der Waseda-Universität, der Hōsei-Universität, der Shōka-Universität [Hitotsubashi-Universität], der Takushoku-Universität und der Ersten Höheren Schule gebildete Großjapanische Bund für Studenten-Karate-Dō, der den Marquis Saigō Kichinosuke zum Vorsitzenden machte, veranstalten am kommenden neunzehnten Tag von ein Uhr nachmittags an im Shōtōkan-Dōjō, das in Zōshigaya 6-815, Toshima-Ku, ist, ein gemeinsames großes Treffen für eine kämpferische Vorführung.
Als Karate-Dō hat der Wiederaufbau eine Geschichte von zwanzig Jahren. Was aber die kämpferische Vorführung von solch einem großen Maßstab betrifft, [so] sollte diese die erste sein. Die Vorführenden wählt man aus der Elite des Studentenbunds und des Shōtōkan aus. Und durchgeführt werden
- Kata-Erklärungen und Kumite,
- greifende Hände [Tori-Te],
- freies Kumite [Jiyū-Gumite],
- Erhaschen des echten Säbels [Shinken-Dori],
- Kunst der Sai [Sai-Jutsu],
- Kunst des Stocks der Shōtōkan-Strömung [Shōtōkan-Ryū Bō-Jutsu] und
- Teststöße [Tameshi-Zuki].
Herr Shimizu Toshiyuki aus der fernen Zweigstelle Toyama, die Person mit dem höchsten Dan, wird "Wolkenhände" [Unshu] [und] die Kunst des Stocks [Bō-Jutsu] vorführen.
Saigō Kichinosuke 西郷吉之助 (1906–1997) war ein Privatschüler von Funakoshi und ein bekannter Abgeordneter des japanischen Oberhauses. Sein Name, der wohl bewusst aufgeführt wurde, verleiht dem Artikel und Funakoshis Karate einen noblen Anstrich. In allen genannten Universitätsklubs wurde Karate nach Funakoshi trainiert. Dieses große Treffen war also nicht schulübergreifend. Funakoshi selbst wird im Artikel als Persönlichkeit hochgehalten, die Karate seit etwa zwanzig Jahren wiederbelebt bzw. wiederaufbaut.
Die zu Beginn angekündigten Kata-Erklärungen und Kumite dürften vornehmlich die von Funakoshi unterrichteten Kata und Kumite sowie von den Universitätsklubs zusammengestellte Kumite betroffen haben. Das freie Kumite in diesem Programm sollte nicht unbedacht mit dem heute verbreiteten freien Kumite gleichgesetzt werden.
Neben den Kumite werden Partnervorführungen der sogenannten "greifenden Hände" (Tori-Te 捕手) erwähnt. Beispiele für Tori-Te wurden im gleichen Jahr in dem vom Shōtōkan selbst herausgebrachten Buch "Das wahre Mark des Karate-Dō" in Text und Bild vorgestellt.
Obwohl Karate als "leere Hand" bezeichnet wird, erfährt der Leser beim nächsten Programmpunkt, dass auch Waffen zum Karate der Funakoshi-Linie gehören. Beim "Erhaschen des echten Säbels" handelt es sich um Kumite mit einem unbewaffneten Übenden, der sich gegen Säbelangriffe eines zweiten Übenden verteidigt.
Eine weitere wichtige Waffe des Karate ist das Sai, dessen Handhabung ebenfalls demonstriert werden sollte. Ein Sai ist ein Metallprügel mit charakteristischer, u-förmiger Parierstange, der im ehemaligen Königreich Ryūkyū von Ordnungshütern eingesetzt worden ist. Üblich war zu Funakoshis Zeit der Umgang mit jeweils zwei Sai.
Auch der Kampfstock wurde als wichtige Waffe des Karate in das Programm der Vorführungen aufgenommen. Beachtenswert ist die Formulierung "Shōtōkan-Ryū Bō-Jutsu". Mit ihr wird betont, dass es sich nicht um beliebige Stocktechniken oder Stockformen anderer okinawanischer bzw. japanischer Traditionen handelt. Dem Leser wird klar, dass sie ein Bestandteil des Shōtōkan-Lehrgebäudes sind.
Nebenbei bemerkt, ist dieser Artikel eine der frühsten Quellen, in denen die Bezeichnung "Shōtōkan-Ryū" auftaucht.
Bei den "Teststößen" (Tameshi-Zuki 試突) dürfte es sich wohl um Bruchtests mit Holzbrettern, Dachziegeln o. ä. gehandelt haben.
Abschließend enthält der Artikel die Ankündigung, dass Shimizu Toshiyuki 清水敏之 (1899–1979) als Gast zwei Vorführungen abhalten wird: die Kata "Wolkenhände" und den Umgang mit dem Bō. Der Name der Kata wird im Artikel ohne Lesung angegeben. Funakoshi selbst liest die entsprechenden Zeichen 雲手 "Unshu".
Vergleichen wir nun die technischen Inhalte, die für die große Aufführung 1939 im Shōtōkan angekündigt wurden, mit denen, die heutzutage gewöhnlich mit der Bezeichnung "Shōtōkan-Ryū" und dem Karate Funakoshis in Verbindung gebracht werden, dann wird eine inhaltliche Ausdünnung ersichtlich. Während unbewaffnete Kata, "festgelegtes" und freies Kumite sowie manchmal auch Teststöße zur Übungspraxis heutiger Vertreter der bekannten, mitgliederstarken Shōtōkan-Gruppierungen gehören, ist darin das Fehlen von Tori-Te, dem "Erhaschen des Säbels" sowie von den Waffen Sai und Bō offensichtlich.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen zur Geschichte und Lehre des Kampfstocks im Shōtōkan-Ryū liefere ich in meinem Buch "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II". Darin enthalten ist auch ein ausführliches Kapitel über Shimizu Toshiyuki.
Über die Hintergründe zweier Stock-Kata aus dem Shōtōkan-Ryū sowie über die Geschichte und Technik im historischen Shōtōkan informiere ich in meinem Buch "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I).
Ausführliche Informationen zur Geschichte und Lehre der Sai im Shōtōkan-Ryū sowie einer weiteren Stock-Kata liefere "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III".
Für Beispiele von Tori-Te siehe meine Übersetzung des Buchs "Das wahre Mark des Karate-Dō" von 1939.
Bibliografie
Asahi Shinbun (Hrsg.): Gōdō Karate Enbu-Taikai (Gemeinsames großes Treffen für eine Karate-Vorführung), Tōkyō 1939
G. Funakoshi: Ryūkyū Kenpō. Karate (Ryūkyūs Faustmethode: Die chinesische Hand) (kommentierte Neuauflage), Ginowan 1994
Henning Wittwer