Verschiedenartige Gedenksteine (Ishibumi 碑) für Größen aus der japanischen Kampfkunst sind gar nicht so selten. Auch Anhänger des Karate widmeten dann und wann ihrem verschiedenen Lehrmeister ein Denkmal. Vielleicht handelt es sich im Fall des Funakoshi-Denkmals in Kamakura um das bekannteste seiner Art. Insgesamt enthält es drei Inschriften.
Als erstes findet sich ein von Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) selbst stammendes Gedicht in Stein gehauen. Dabei wurde Funakoshis Kalligrafie originalgetreu, einschließlich seiner Siegel, übernommen. Es ist mit "Shōtō" ("Kiefernwoge"), seinem Künstlernamen, unterzeichnet. Meine Übersetzung dieser mitreißenden Worte lautet folgendermaßen:
Die göttliche Kunst der südlichen Gestade – das ist die der nackten Fäuste.
Ich muss den Verfall und die Unterbrechung ihrer rechten Überlieferung beklagen.
Wer wird das Werk des Wiederaufbaus vollenden?
Für diese Herzensanstrengung beschwöre ich den blauen Himmel.
Am auffälligsten tritt die von Asahina Sōgen 朝比奈宗厳 (1891–1979) angefertigte Kalligrafie hervor. Asahina Sōgen war der Abt des "Tempels der vollständigen Erkenntnis" (Engaku-Ji 円覚寺) und ein guter Bekannter Funakoshis. So suchte ihn Funakoshi auf, um seinen Rat bezüglich der Änderung der Schriftzeichen im Begriff "Karate" einzuholen. Bestärkt durch die Worte des Abts begann Funakoshi 1929 den bekannten Wandel von "chinesische Hand“ zu "leere Hand" durchzuführen. Asahina war auch einer der Ehrengäste bei der Einweihungszeremonie des Shōtōkan, Funakoshis eigener Karate-Übungsstätte, im Jahr 1939. Sein Beitrag auf dem Denkmal ruft die Maxime "Im Karate macht man nicht den ersten Zug" bzw. "Karate ist ohne ersten Zug" wach:
Eine Ermahnung von Meister Shōtō, Funakoshi Gichin, Pionier des Karate-Dō:
Karate ni Sente nashi.
Urfassung von Asahina Sōgen, Abt von Engaku.
Etwas unauffälliger wirkt der Stein mit der dritten Inschrift, einem biografischen Kommentar. Dieser wurde handschriftlich von Prof. Ōhama Nobumoto 大浜信泉 (1891–1976) angefertigt. Der Jurist Ōhama stammte, wie auch Funakoshi, aus der Präfektur Okinawa. Er setzte sich zudem in der Welt des Karate ein und war ein Bekannter Funakoshis. Im ersten Teil umreißt er kurz das Leben Funakoshis, während er im zweiten Teil erläutert, weshalb Funakoshi die Schreibweise "Weg der leeren Hand" anstatt "Kunst der chinesischen Hand" verbreitete. Alle Jahresangaben werden in dem Text nach japanischem Brauch dargestellt. Dabei wird zuerst der Name der Ära des jeweiligen japanischen Kaisers aufgeführt, dem die Jahreszahl der entsprechenden Ära folgt. Ich füge der jeweiligen japanischen Jahreszahl in eckigen Klammern das in Deutschland gebräuchliche Jahr an. Hier meine Übersetzung seines Textes:
Meister Funakoshi Gichin, Pionier des Karate-Dō, wurde am 10. Tag des 10. Monats des Jahres Meiji 3 [1870] in der Stadt Shuri, Präfektur Okinawa, geboren. Die Kunst des Karate lernte er etwa seit seinem elften Lebensjahr von den beiden Lehrern Asato Ankō und Itosu Ankō. Indem er dessen Geheimnisse ergründete, trat er im Jahre Taishō 1 [1912] das Amt des Vorsitzendenden der Okinawanischen Vereinigung der gepriesenen Kampfkunst [Okinawa Shōbukai] an. Im fünften Monat des Jahres Taishō 11 [1922] kam er in die Hauptstadt [nach Tōkyō] und vertiefte sich seither in das Unterrichten des Karate-Dō. Mit achtundachtzig Jahren wurde am 26. Tag des 4. Monats des Jahres Shōwa 32 [1957] seine Lebensspanne vollendet. Bis dahin weihte er seine ganze Seele der Ausbreitung und Verbesserung dieses Wegs.
Durch den Meister wurde der Weg des Karate verkündet. Sein Hauptaugenmerk war aber die Modifikation der Idee der überlieferten Kunst des Karate [chinesische Hand]: "Leere" [Kara] ist der Gipfel der Kampfkunst. Was das betrifft, [so] ist es der Wille, sich selbst leer zu machen. "Weg" [Dō] bezweckte die Veredelung von der Kunstfertigkeit hin zum Bushidō. Mit den goldenen Sprüchen "Im Karate macht man nicht den ersten Zug" [Karate ni Sente nashi] und "Karate ist die Kampfkunst der vollkommen Tugendhaften" [Karate wa Kunshi no Bugei] wurde man vom Meister vor dem Missbrauch der Kunst gewarnt. Sie ist auch eine auf diesen Idealen ruhende Sache.
Um der Tugend, die der Meister als Pionier des Karate-Dō hinterließ, zu gedenken und seine Verdienste zu ehren, wurde von seinen gleichgesinnten Schülern der Shōtōkai gegründet. In Zusammenhang mit der Lehre "Faust und Zen sind eines" [Kenzen Itchi] stiften wir hier im Tempelbezirk des Engaku-Ji dieses Denkmal.
Der 1. Tag des 12. Monats des Jahres Shōwa 43 [1968]
Ehrerbietig geschrieben von Ōhama Nobumoto
Funakoshi selbst erklärt, dass er im Jahr 1868 geboren sei. Somit wird sich sein Geburtstag im Jahr 2018 zum hundertfünfzigsten Mal jähren.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen über das Leben und die Lehre von Funakoshi Gichin liefere ich in meinen Büchern "Funakoshi Gichin & Funakoshi Yoshitaka: Zwei Karate-Meister", "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I) sowie "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Henning Wittwer