Durch den Bekanntheitsgrad des Funakoshi-Denkmals in Kamakura stolpern wir immer wieder über die Falschinformation, dass Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) in Kamakura beerdigt worden wäre. Tatsächlich befindet sich sein Grab (Haka 墓) jedoch auf dem Gelände des zur buddhistischen Nichiren-Sekte gehörenden "Tempels des Guten und Rechten" (Zenshō-Ji 善正寺) in der Stadt Kawasaki.
Auf dem zentralen Stein seiner Grabstätte können wir in fetten Schriftzeichen "Grab der Familie Funakoshi" lesen. Es handelt sich also um ein in Japan typisches Familiengrab. Solche Familiengräber dienen ganz ähnlich denen in Deutschland der Erinnerung an die Verstorbenen, und sie werden von Familienangehörigen besucht. Bei Besuchen können Blumen und Räucherstäbchen am Grab platziert werden. Jedenfalls deuten schon die Schriftzeichen, mit denen der Familienname Funakoshi in den Stein gehauen wurde, auf einen Wendepunkt in der Familiengeschichte hin. Funakoshi Gichin wählte diese Zeichen, nachdem er seine Heimatinsel Okinawa verlassen hatte und in Tōkyō sesshaft geworden war. Sie bedeuten "Die, die mit dem Schiff [Funa 船] herüberkamen [Koshi 越]".
Hinter dem zentralen Stein sind einige längliche Grabtafeln aus Holz (Sotoba 卒塔婆) angeordnet. Diese Holzlatten werden normalerweise nach einer gewissen Zeit entfernt und durch Neue ersetzt. Abhängig von Zeit und Umständen befinden sich mal mehr, mal weniger von ihnen auf ein und demselben Grab. Im Mai 2015 waren vier Sotoba auf dem Funakoshi-Grab aufgestellt. Drei von ihnen stammten von Karate-Adepten. Die erste stiftete Takagi Jōtarō 高木丈太郎 (1927–2016), der ehemalige Leiter des heutigen Shōtōkan (das Hauptquartier des Shōtōkai). Zwei weitere Sotoba wurden von einer Gruppe gleichgesinnter Veteranen des Shōtōkan-Ryū Okano-Ha, eines in Deutschland eher unbekannten Zweigs, der auf Okano Tomosaburō 岡野友三郎 (1922–2003) zurückgeht, aufgestellt. Die Vierte stammt von einem Mitglied der Funakoshi-Familie.
Seitlich ist ein zweiter Stein mit der sogenannten Grabinschrift (Boshi 墓誌) aufgebaut. Er enthält die Namen von den sieben Personen, die derzeit im Funakoshi-Familiengrab beigesetzt sind. In großen Zeichen sind die Totennamen (Kaimyō 戒名) eingemeißelt, die jeder der sieben Verstorbenen nach buddhistischem Brauch erhielt. Diese Totennamen bekunden den sinnbildlichen Eintritt in das Leben eines buddhistischen Mönchs, d. h. der Verstorbene wurde quasi zum Mönch geweiht. Dabei handelt es sich um eine gängige Praxis, die aber nicht ohne weiteres besagt, dass der Verstorbene zu Lebzeiten ein buddhistischer Mönch war. Funakoshi Gichin war also kein buddhistischer Mönch. Wie in Japan üblich erhielt er posthum einfach im Verlauf der Totenriten einen Totennamen, der in seinem Fall "Shōtō-Inden Gichin Nichiei Daikoji" 松濤院殿義珍日叡大居士 lautet. Unterhalb des jeweiligen Totennamens stehen in kleinerer Schrift das Todesdatum, der weltliche Rufname des Verstorbenen sowie sein Alter in japanischer Zählweise.
Der erste Name der Grabinschrift des Funakoshi-Familiengrabs ist Gichin, der am "26. Tag des 4. Monats des Jahres Shōwa 32 [1957]" starb. Sein Alter ist mit "90 Jahren" angegeben, was nach deutscher Zählweise 89 Jahren entspricht. Direkt daneben sehen wir den Eintrag:
"4. Tag des 10. Monats des Jahres 22 derselben [Ära] [1947]. Gosei. 73 Jahre."
Gosei war Gichins Ehefrau, die nach deutscher Zählweise im Alter von 72 Jahren starb. Aufgrund des Zustands der Inschrift ist es allerdings nicht ganz sicher, ob ihr Name "Gosei" oder vielleicht eher "Kosei" gelesen wird. Für uns als Karate-Anhänger ist auch noch der dritte Eintrag interessant. Er lautet:
"2. Tag des 3. Monats des Jahres 36 derselben [Ära] [1961]. Giei. 61 Jahre."
Giei war Funakoshi Gichins ältester Sohn. Er war zwar kein Karate-Lehrer, hatte aber nach Gichins Ableben die Leitung des Karate-Vereins seines Vaters, dem Nihon Karate-Dō Shōtōkai, übernommen.
Sowohl Funakoshi Gichins Grab in Kawasaki als auch das Funakoshi-Denkmal in Kamakura können dabei helfen, die Erinnerung an das Leben und Wirken dieses Karate-Pioniers in Erinnerung zu behalten. Insbesondere den Übenden des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū sollte diese Erinnerung wichtig sein.
Anmerkungen
Ausführlichere Informationen über Funakoshi Giei und seine Rolle im Karate seines Vaters liefere ich in meinem Buch "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I), S. 73 und S. 173 f.
Funakoshi Gichin und seine Lehre behandle ich ausführlich in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I), "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II", "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III" und "Funakoshi Gichin & Funakoshi Yoshitaka: Zwei Karate-Meister".
Henning Wittwer