In einer historischen Quelle namens „Tāfākū“, die mit dem Dorf Kume in Bezug gebracht wird, findet sich ein Programm von Vorführungen, welches am 24. Tag des 3. Monats des Jahres Keiō 3 (1867), dem Folgejahr der offiziell durch China bestätigten Krönung des letzten Königs von Ryūkyū, Shō Tai 尚泰 (1843–1901), veranstaltet wurde. Veranstaltungsort war das Herrschaftliche Teehaus (Uchayā-Udun 御茶屋御殿) in Sakiyama.
Der Titel des Programms lautete "Programm zu den Drei-Sechs-Neun und zu allen Künsten". "Drei-Sechs-Neun" (chin.: San-Liu-Chiu 三六九) bezieht sich dabei auf alle Tage des Monats, in denen diese Zahlen vorkommen, wie der 3. Tag, der 6. Tag, der 9. Tag, der 13. Tag usw. An diesen Tagen fand in Kume Unterricht in verschiedenen Fächern statt, die teilweise während des Programms dargeboten wurden. Insgesamt umfasste dieses Festprogramm fast fünfzig Aufführungen, von denen zehn kampfkünstlerischer Natur waren. Eben diese zehn schriftlich festgehaltenen Kampkunstdarbietungen gewähren uns einen kleinen, aber lohnenden Blick auf Inhalte und Vertreter der Kampfkunst Ryūkyūs vom Ende der Edo-Zeit (1603–1868).
In den 1956 herausgebrachten gesammelten Werken des okinawanischen Gelehrten Shimabukuro Zenpatsu 島袋全発 (1888–1953) wurde diese Programmschrift zum ersten Mal einer breiteren japanischsprachigen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Einer abendländischen Leserschaft stellte zuerst Patrick McCarthy im Jahre 1990 die zehn Kampfkunstdarbietungen dieses Programms auf Englisch vor.
Unten folgt meine neue Übersetzung der einzelnen kampfkünstlerischen Vorführungen, denen ich jeweils in eckiger Klammer die entsprechenden Kanji sowie eine chinesische, japanische oder okinawanische Lesung hinzufüge. Wie genau die entsprechenden Begriffe damals ausgesprochen wurden, lässt sich anhand der Quelle – abgesehen von einem Begriff – nicht feststellen. Dann führe ich den oder die Namen des oder der Vorführenden an. Zu jedem dieser Programmpunkte schreibe ich schließlich eine kurze, erklärende Anmerkung.
Programm zu den Drei-Sechs-Neun und zu allen Künsten [Auszug]
- Rohrschild [藤牌, chin.: Têng-P’ai] ― Maezato Chiku Peichin
Anmerkung: Ein Têng-P’ai ist ein aus Bambusrohr angefertigtes, meist rundes Schild. Es ist eine in der chinesischen Volkskampfkunst verwendete Abwehrwaffe, die aber auch in der militärischen Kampfkunst genutzt wurde. Ergänzend zum Têng-P’ai kamen u. a. Säbel oder Wurfspieß zum Einsatz. In der Mundart Ryūkyūs verzerrte sich der chinesische Ausdruck "Têng-P’ai" und wird heute "Tinbei" ausgesprochen. Wahrscheinlich handelte es sich bei dieser Vorführung um eine Soloform, wobei nicht klar ist, welche Angriffswaffe neben dem Rohrschild zum Einsatz kam bzw. ob überhaupt eine Angriffswaffe benutzt wurde.
- Eisernes Fuß [鉄尺, chin.: T’ieh-Ch’ih] zusammen mit Stock [棒, chin.: Pang, jap.: Bō] ― Maezato Chiku Peichin / Aragaki Tsūji
Anmerkung: Zum "Eisernen Fuß" s. unten. Erwähnenswert ist, dass für den Stock das Schriftzeichen 棒 verwendet wurde. Die Formulierung "zusammen mit" lässt darauf schließen, dass es sich um eine Zweikampfdarbietung, Stock gegen Eisernes Fuß, handelte. Es ist unklar, ob bei der Vorführung ein oder mehrere T’ieh-Ch’ih zum Einsatz kamen.
- Dreizehn Schritte [十三歩, chin.: Shih-San Pu] ― Aragaki Tsūji
Anmerkung: Hierbei handelte es sich wahrscheinlich um die Vorführung einer waffenlosen Soloform namens "Dreizehn Schritte". Im heutigen Karate gibt es viele Fassungen der Kata Seishan bzw. Seisan (Hangetsu). Aragakis Form war aufgrund der Namensverwandtschaft vermutlich eine Version von Seishan.
- Stock [棒] zusammen mit Chinesischer Hand [唐手, jap.: Karate, okin.: Karati] ― Maezato Chiku Peichin / Aragaki Tsūji Peichin
Anmerkung: Die Formulierung "zusammen mit" lässt darauf schließen, dass es sich um eine Zweikampfdarbietung, "chinesische Hand" gegen Stock, handelte. Das Kanji 唐 bezeichnet T’ang-China bzw. generell China. Es wird u.a. "Kara" ausgesprochen. "Karati" kann also "chinesische Kampfkunst (Tī)" meinen. Ich gehe davon aus, dass es in diesem Fall als eine Art Wortspiel gebraucht wurde und gleichzeitig aussagen sollte, dass es sich um waffenlose Techniken gegen Stocktechniken handelt. Es fand also mehr oder weniger gleichbedeutend zur Schreibung 空手 Verwendung, die "Karati" gelesen und als "leere Hand" übersetzt werden kann.
- Chishōkin ― Aragaki Tsūji Peichin
Anmerkung: Dieser Begriff wurde ohne Kanji, allein lautsprachlich angeführt. Kinjō zufolge könnte es sich um eine Variante eines noch heute bekannten Kata-Namens handeln, der "Shisōchin" lautet. Die Kata Shisōchin steht z. B. auf dem Lehrplan des Gōjū-Ryū.
- Rohrschild [藤牌] zusammen mit Stock [棒] ― Tomimura Chiku Peichin / Aragaki Tsūji Peichin
Anmerkung: Erneut lässt die Formulierung "zusammen mit" den Schluss zu, dass es sich um eine Zweikampfdarbietung, Stock gegen Rohrschild, handelte. Unklar bleibt, welche Angriffswaffe neben dem Rohrschild zum Einsatz kam bzw. ob überhaupt eine Angriffswaffe neben dem Rohrschild benutzt wurde.
- Eisernes Fuß [鉄尺, chin.: T’ieh-Ch’ih] ― Maezato Chiku Peichin
Anmerkung: Ch’ih 尺 ist eine chinesische Maßeinheit. 1 Ch’ih beträgt umgerechnet 35,81 cm und entspricht in etwa 1 Fuß. T’ieh-Ch’ih bezeichnet einen kurzen Eisenstab bzw. einen metallenen Prügel mit rundem oder eckigem Querschnitt. Oft verfügt er über U-förmige Parierstangen. In der Kampfkunst Okinawas trägt diese Waffe heutzutage die Bezeichnung Sai 釵 (Haarschmucknadel). Es ist unklar, ob bei der Vorführung ein oder mehrere T’ieh-Ch’ih zum Einsatz kamen.
- Kreuzen der Hände [交手, chin.: Chiao-Shou] ― Maezato Chiku Peichin / Aragaki Tsūji Peichin
Anmerkung: Im Chinesischen wird mit diesem Ausdruck ein Kampf Mann gegen Mann beschrieben. D. h. es handelt sich um eine wahrscheinlich unbewaffnete Zweikampfübung bzw. –vorführung.
- Radstock [車棒, okin.: Kuruma-Bō] ― Ikemiyagusuku Shūsai
Anmerkung: Es handelt sich um einen großen Dreschflegel, der als Waffe eingesetzt wurde. Indem sie verkleinert wurde, entwickelte sich aus dieser Art von Waffe das berühmte Nunchaku. Wie in den anderen Fällen handelte es sich wohl um die Vorführung einer Soloform.
- Einhundertundacht Schritte [壱百零八歩, chin.: I-Pai Ling-Pa Pu] ― Tomimura Chiku Peichin
Anmerkung: Bezeichnung einer heute noch bekannten unbewaffneten Kata. Laut Kinjō Akio, müsste die korrekte Aussprache der Kata "Sopārinpei" und nicht wie heute üblich "Sūpārinpei" lauten.
Zusammenfassend können wir festgehalten, dass Maezato, falls es sich in allen Fällen um dieselbe Person handelte, im Umgang mit dem Rohrschild, dem Eisernen Fuß, dem Stock sowie in unbewaffneten Verfahren geschult war. Vorausgesetzt, dass es sich immer um ein und denselben Adepten namens Aragaki handelte, dann hatte Aragaki die häufigsten Auftritte, welche belegen, dass er sowohl mit Stock als auch mit unbewaffneten Verfahren vertraut war. Tomimura führte den Einsatz des Rohrschilds sowie eine unbewaffnete Soloform vor. Abgesehen von Ikemiyagusuku, gingen folglich wohl alle damals auftretenden Adepten einer Kampfkunst nach, die bewaffnete wie unbewaffnete Bestandteile enthielt.
Augenscheinlich waren zu diesem Zeitpunkt sowohl Soloformen als auch Partnerübungen in der Kampfkunst Ryūkyūs gängig.
Schließlich zeigen die Titel der Vorführenden, dass es sich um Personen mit Rang und Namen, also Personen aus einer gehobenen gesellschaftlichen Klasse und keine Bürgerlichen, handelte.
Anmerkungen
Viele Informationen über die Waffen in der Kampfkunst Ryūkyūs (Okinawas) liefere ich in meinem Buch "Karate. Kampfkunst. Hoplologie".
Über den Stock im Karate schreibe ich ausführlich in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Ausführliche geschichtliche Hintergründe zu den Sai im Karate lege ich in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III" dar.
Bibliographie
C.K. Ch’i: Chi-Hsiao Hsin-Shu (Neue Abhandlung über den disziplinierten Dienst), T’aipei 2000
K. Iwai: Motobu Chōki to Ryūkyū Karate (Motobu Chōki und das Karate aus Ryūkyū), Tōkyō 2001
A. Kinjō: Karate Denshin-Roku (Lebensechte Aufzeichnungen zum Karate), Naha 1999
M. Nakamoto: Okinawa Dentō Kobudō. Gairyaku to Shuri-Te-Kei no Karate Kobudō no Tatsujin (Traditionelles Kobudō aus Okinawa – Ein Abriß mit Karate- und Kobudō-Meistern der Linie des Shuri-Te), Uruma 2006
S. Takamiyagi et al.: Okinawa Karate Kobudō Jiten (Lexikon des okinawanischen Karate und Kobudō), Tōkyō 2008
Henning Wittwer