Matsumura Sōkon 松村宗棍 (1797–1889) und Itosu Ankō 糸洲安恒 (1831–1915) spielen innerhalb der Übertragungslinie des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū eine wichtige Rolle. Denn beide waren direkte Lehrer von Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957). Matsumura war darüber hinaus der Lehrer von Asato Ankō 安里安恒 (1828–1906), den Funakoshi als seinen Hauptlehrer bezeichnet. Unten stelle ich meine Übersetzung zweier Erzählungen über Matsumura und Itosu vor, die der Karate-Forscher Nakasone Genwa 仲宗根源和 (1895–1978) im Jahre 1943 veröffentlichte.
Neben der eigentlichen Technik und Lehre eines Karate-Pioniers sind dessen Leben und Persönlichkeit – private Einblicke sozusagen – von Interesse, wenn es um die Erforschung des Karate geht. Es gibt bedauerlicherweise keine zuverlässigen fotografischen oder gezeichneten Portraits von Matsumura und Itosu. Erhalten geblieben sind jedoch verschiedene schriftlich fixierte Erzählungen über sie. Ein Wert dieser kampfkünstlerischen Folklore Ryūkyūs besteht darin, dass sie uns erlaubt, die Karate-Pioniere so sehen zu können, wie sie ihre Schüler bzw. die Schüler ihrer Schüler sahen oder sehen wollten.
Nakasone war ein Schüler von Itosu, über den er die unten stehende Geschichte veröffentlichte. Jedoch erwähnt er nicht, von wem genau er die Erzählung über Itosu und die über Matsumura hörte. In meiner Übersetzung stammen Worte in eckigen Klammern von mir und Worte in runden Klammern von Nakasone. Das falsche Geburtsjahr im Itosu-Text änderte ich nicht.
Mehrere Feinde zurückdrängen
Die Geschichte, [in der] es [dazu] kam, dass der ehrwürdige Matsumura auf den Befehl des Königs von Ryūkyū hin einen Wettstreit mit einem wilden Ochsen machte und schlagfertig siegte, schrieb ich als eines der "Erzählstücke des Karate-Dō" in die "Große Betrachtung des Wegs des Karate" [Karate-Dō Taikan]. Dieser Matsumura ist einmal von mehreren Kampfkünstlern umzingelt worden.
Matsumura war in jener Zeit ein namhafter, erstklassiger Faustmeister. Daher waren es bei der Sache, als sie soweit kamen und ihm gegenübertraten, trotzdem er die Menge bat [aufzuhören], ausnahmslos alle gewiss reichlich selbstsichere Leute.
Matsumura war jedoch immer in [Richtung] einer Haltung des Herzens achtsam, dass er, indem er [jemanden] als großen Feind ansah, ihn nicht fürchtete, und indem er [jemanden] als kleinen Feind ansah, ihn nicht verachtete.
Obwohl er unerwartet umzingelt wurde, klärte er, während er mit [größter] Aufmerksamkeit eine Haltung einnahm, still Herz und Geist. Alsdann verstand er vom Gefühl [her], dass sicher auch seine Gegner in den Kampfkünsten ziemlich leuchtende Personen sind und dass es eine Sache ist, bei der die hinter ihm selbst stehende Person nach einer festgelegten Regel am stärksten und heldenhaftesten ist.
Der ruhig seine Atmung bemessende Matsumura stieß – "Ei‘" – zur Vorderseite seine Faust hervor und es war nahezu gleichzeitig, dass er sich umdrehte und sie nach hinten mit wilden Tritten fütterte.
Als von ihm in der feindlichen Formation eine Welle ausgelöst wurde, flog seine Faust schon zum Rest nach rechts, wenn sein Fuß [zum Rest] nach links flog. (Da im Karate beide Fäuste und beide Füße frei verwendet werden, ist es genauso als ob dessen Meister sie frei zu vier Säbeln machen.)
Im Nu wurden es Tausende Wellen, Zehntausende Wellen von Aufregung. Zusehends fiel ein Mensch um, zogen sich zwei Menschen zurück. Ohne [länger als] einige Minuten zu gehen, konnte er schließlich bewirkten, dass die feindlichen Kräfte vollständig fliehen mussten.
"Wenn Sie gleich den Osten anzugreifen wünschen, schlagen Sie zunächst den Westen!" – Dieser wahre Grundsatz trifft für das Karate am passendsten zu.
Ein unerwarteter Schlag von der Rückseite
Der ehrwürdige Itosu Ankō war eine Größe des Karate, die im Jahre Taishō 5 [1916] mit fünfundachtzig Jahren verstorben ist. (Auch ich, der Verfasser, bin eine Person, die in der [alten] Heimat in meiner Zeit als Mittelschüler die Anleitung des ehrwürdigen [Itosu] erhielt.) Er war ein Meister, der gleichzeitig [technische] Fertigkeit und Kraft besaß.
Eines nachts kam von der Rückseite des ehrwürdigen Itosus her, der im Regen, in einer Hand einen Regenschirm [tragend], seinen Weg ging, unerwartet eine eiserne Faust geflogen. Der ehrwürdige [Itosu] schien ein bisschen die Hüften zu drehen. Aber ohne einen Schritt stehenzubleiben, lief er, nach wie vor in einer Hand den Regenschirm, gelassen weiter.
Als er hinschaute, war in seiner linken Achsel die rechte Hand eines sein Gesicht verbergenden Mannes eingeklemmt. Und obwohl er sich wand, wurde er mitgezogen.
Was die schnelle Technik in dem Augenblick betrifft, in dem er den plötzlich von hinten kommenden, unerwarteten einen Angriff [abfing, indem er], den Körper drehend, das Handgelenk des Gegners mit einem Ruck in der Achselhöhle einklemmte und den Regenschirm [von der linken] in die rechte Hand wechselte, [so] kam es bei keinem Schritt zu Aufregung.
Der sein Gesicht verbergende Mann entschuldigte sich mit einer beinahe weinenden Stimme:
"Meister, verzeihen Sie mir bitte! Von jetzt an tue ich nie mehr etwas Unmoralisches."
Mit einer kalt gemachten Stimme, ohne den das Gesicht Verbergenden etwas tun zu lassen, trennte er sich einfach so [von ihm]:
"Gib acht!"
Anmerkung
Mehr zu Leben und Lehre von Matsumura Sōkon findet sich in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen".
Mehr zu Leben und Lehre von Itosu Ankō findet sich in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen" sowie in "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Bibliographie
G. Funakoshi: Karate-Dō Ichiro (Karate-Dō – Ein Weg), Tōkyō 1976
G. Nakasone: Budō Monogatari (Erzählungen über die Kampfwege), Tōkyō 1943
Henning Wittwer