Karate war in den 1930er Jahren auf den japanischen Hauptinseln noch eine recht neuartige Kampfkunst. Jūdō oder Jū-Jutsu, egal welcher Tradition, waren dagegen in jener Zeit in japanischen Kampfkunstkreisen weithin bekannt. In dieser Lage begannen Karate-Anhänger damit, Karate mit Jūdō zu vergleichen und Jūdō für ihre eigenen Werbebotschaften zu nutzen.
Hier möchte ich kurz zwei Werbetaktiken vorstellen, die von damaligen Karate-Vertretern gebraucht und veröffentlicht wurden. Sie sind aus historischer und inhaltlicher Sicht bemerkenswert.
Werbetaktik 1: Hinweise, dass der Jūdō-Gründer Karate gut findet
Kanō Jigorō 嘉納治五郎 (1860–1938) zählte als "Vater des Jūdō" zu den bekannten und einflussreichen Vertretern des japanischen Budō. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts verwendeten einzelne Karate-Anhänger seinen Namen in Artikeln über die Kampfkunst Okinawas. Er wurde von ihnen also als erwähnenswerte Berühmtheit wahrgenommen, und sein Name schien ihnen zur Förderung des Karate willkommen zu sein. Durch das folgende Textbeispiel können wir nachvollziehen, auf welche Weise der Name Kanō im Sinne des Karate eingesetzt wurde. Sein Verfasser ist Nakasone Genwa 仲宗根源和 (1895–1978), ein okinawanischer Karate-Forscher und -Autor. Es stammt aus Nakasones Broschüre "Gespräche zum Karate" aus dem Frühjahr 1937 (Shōwa 12):
Meister Kanō Jigorō und Karate-Dō
Meister Kanō Jigorō, der Gründer des Jūdō und Leiter des "Gebäudes zum Untersuchen des Wegs" [Kōdōkan 講道館], hat seit früher ein tiefes Interesse für Karate. Indem er im Jahr Shōwa 2 [1927] mit hohen Schülern extra eine Reise nach Okinawa machte, sind von ihm erstklassige Größen des Ursprungsorts über die Angelegenheit des Karate befragt worden. Dann hörte er dessen Theorie und sah eine Aufführung. Er vermochte seine Bewunderung nicht zu beschreiben. Indem er Worte des Lobs äußerte, sprach er:
"Es sollte veranlasst werden, das freie Angreifen und Verteidigen [d. h. Karate] im ganzen Land zu verbreiten."
Von Meister Kanō wurde danach die "Nationale Leibeserziehung" [Kokumin Taiiku 国民体育] veröffentlicht. Und es wird gesagt, dass sie ihren Anfang hauptsächlich in den Andeutungen aus jener Zeit nahm.
Nakasones Leser erfährt, dass Kanō "tiefes Interesse" für Karate hat und es nicht nur bewundert, sondern sich sogar vom Karate anregen ließ, seine "Nationale Leibeserziehung" zu erstellen. "Nationale Leibeserziehung" ist heute unter dem Namen "Die Energie gut gebrauchende, nationale Leibeserziehung" (Seiryoku Zen’yō Kokumin Taiiku 精力善用国民体育) bekannt. Selbstverständlich werten solche Informationen Karate in den Augen von Interessenten und auch Lernenden auf.
Werbetaktik 2: Jūdō und Karate im technischen Vergleich (die Faust)
Naheliegend sind zudem technische Gegenüberstellungen. Eine technische Grundlage des Karate ist die Faust, die sich allerdings von der im Jūdō gebrauchten unterscheidet. Im folgenden Textauszug, der ebenfalls aus den "Gesprächen zum Karate" stammt, weist Nakasone genau darauf hin. Dabei nutzt er die Schreibung "Jū-Jutsu", möchte sie aber einmal "Jūdō" gelesen haben:
Wenn wir von Karate sprechen, verbinden wir es etwa mit der Faust. Die Art und Weise des Ballens dieser Faust ist aber anders als im Fall der Faustmethode des Jū-Jutsu. Im Jū-Jutsu [lies: Jūdō] benützte man tüchtig Verdreher [Gyaku 逆]. Damit wohl deswegen Daumen-Verdreher nicht durchgeführt werden, ist es [im Jū-Jutsu] normal, die Faust zu ballen, indem man den Daumen in die Mitte macht.
Im Karate gibt es jedoch hauptsächlich Körperschläge. Wenn man daher die Faust ballt, indem man den Daumen in die Mitte macht, besteht bei Körperschlägen die Gefahr, sich den Daumen zu verstauchen (es gibt auch viele tatsächliche Beispiele). Deswegen macht man sich [im Karate] die Art und Weise des Ballens der Faust, [bei der] der Daumen von außen drückt, zur Gewohnheit.
Nakasone vermittelt seinem Leser, dass die im Karate verwendete Faust entsprechend der technischen Inhalte des Karate – Faustschläge bzw. Fauststöße – sinnvoll ist. Zuvor erfährt der Leser, dass die Faust des Jūdō bzw. Jū-Jutsu für Faustschläge weniger geeignet sei, weil die Gefahr von Daumenverletzungen bestünde. Diese Kritik am Jūdō dämpft er etwas durch die Erklärung, dass der Daumen im Jūdō wohl vor dem gegnerischen Griff geschützt werden müsse.
Unverblümter weist der japanische Karate-Lehrer Mutsu Mizuho 陸奥瑞穂 (1898–1970) 1933 (Shōwa 8) auf dieselbe angenommene Schwäche der Jūdō-Faust hin. Er versucht seinem Leser gar nicht erst einen Grund für die besondere Faustform des Jūdō zu liefern, sondern betont die bei ihr bestehende Verletzungsgefahr des Daumens. Interessanterweise führt er danach die Faust aus dem europäischen Boxen an, die seiner Ansicht nach der Karate-Faust ähnelt:
Was die Faust der Jūdōka betrifft, [so] nehmen sie die Methode des Ballens der Faust, indem man den Daumen in die Mitte macht. Wenn man lange Erfahrungen von der Wirklichkeit aus macht, ist es indessen [so], dass man [darauf] achten muss, dass die Gefahr besteht, sich die Daumenknochen zu verstauchen und zu brechen.
Auch bei der Art und Weise des Ballens der Faust im Boxen ballt man so, dass der Daumen außen auf den Mittelfinger kommt. Dessen Treffgebiete auf dem Körper des Feinds gleichen auch ungefähr denen des Karate-Kenpō.
Mutsus Botschaft ist simpel: Der Karate-Lernende eignet sich eine gute Faust an, während der Jūdō-Übende eine unvorteilhafte, verletzungsgefährdete Faust ausbildet. Diese technische Gegenüberstellung dürfte es einem Interessenten leichter machen, sich für Karate zu entscheiden. Und einer Person, die bereits Karate ausübt, zeigt sie, dass sie sich für eine taugliche Kampfkunst entschieden hat. Unabhängig davon können wir alle oben zitierten Aussagen als Zeichen für das Selbstbewusstsein von Karate-Anhängern in den 1930er Jahren werten.
Anmerkung
Ausführliche Informationen über technische, geschichtliche und kulturelle Aspekte der Faust im Karate liefere ich in "Karate. Kampfkunst. Hoplologie".
Bibliografie
M. Mutsu (Hrsg.): Karate Kenpō. Zen (Die Faustmethode der chinesischen Hand. Vollständig) (kommentierte Neuauflage), Ginowan 1999
G. Nakasone: Karate no Hanashi. Risōna Taiiku Goshin Rentan Hō (Gespräche zum Karate – Eine ideale Methode der Leibeserziehung, des Selbstschutzes und zum Schmieden des Muts) (Neuauflage), Ginowan 1997
Henning Wittwer