Anfang des 20. Jahrhunderts war Karate noch recht unbekannt und wurde von eher wenigen Adepten gepflegt. Durch seine darauffolgende weltweite Verbreitung verlor es einige wesentliche Inhalte. So war Karate vor seiner erstaunlichen Ausbreitung als Kampfkunst bekannt, die neben unbewaffneten Verfahren auch Techniken mit dem Stock (jap. Bō bzw. Kon) enthielt.
Dementsprechend war es für den okinawanischen Journalisten Sueyoshi Ankyō 末吉安恭 (1886–1924), einem guten Bekannten von Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957), ganz normal, die Waffen Bō und Sai als Bestandteile des Karate vorzustellen. Im Frühling 1922 schrieb er in einem Artikel für die "Okinawa Times":
Eine ähnlich geartete Angelegenheit wie ein Kriegstanz ist das Karate [唐手] aus Okinawa. Dieses ist eine aus China überlieferte Form der Kampfkunst und kein Kriegstanz. Vielleicht verwandelte sich aber der chinesische Kriegstanz Schritt für Schritt in Kampfkunst und wurde schließlich zu einer Form wie dieser. Die Angelegenheit der so heißenden Form der Kampfkunst hat den Stock und sie hat das Sai. Es scheint, dass das Sai ein aus China überliefertes Ding ist, es beim Stock aber zwei Strömungen aus China und Japan gibt.
Gerade einmal fünfundzwanzig Jahre später waren Waffen als Teil des Karate nicht mehr selbstverständlich. Und so bemühten sich einige Karate-Adepten um Rechtfertigungen für Waffen im Karate. Einer von ihnen war der koreanische Karate-Lehrer Yun Hŭibyŏng 尹曦炳 (1923–2000). Yun lernte nach eigenen Aussagen unter Mabuni Kenwa 摩文仁賢和 (1889–1952) und Tōyama Kanken 遠山寛賢 (1888–1966). Später wirkte er als Leiter des im Herbst 1945 (Shōwa 20) gegründeten "Gebäudes der koreanischen Kampfkunst" (Kanbukan) in Tōkyō. Tōyama, der sich als früher Karate-Funktionär betätigte, ernannte Yun auch urkundlich zu einem "Lehrmeister" (Shihan).
Yun argumentiert, dass Karate-Dō eine aus waffenlosen Methoden und Methoden des Stocks, Nunchaku, Tonfā, Titsū usw. zusammengesetzte Kampfkunst ist. Für ihn ist es eine kleingeistige und beschränkte Sichtweise, Karate nur als Kampfkunst mit "leeren Händen" zu betrachten. Zur Begründung verweist er auf die Geschichte des Karate sowie die Praxis des Selbstschutzes. Vertreter des verminderten, waffenlosen Karate greift Yun mit scharfen Worten an. Hier meine Übersetzung eines Auszugs aus Yuns Werk von 1948:
Sagt man "Kunst des Stocks" [Bō-Jutsu 棒術], ist es [so], dass geglaubt wird, dass sie gar keine Verbindung zum Karate-Dō [空手道] hat. Wenn man Karate-Dō jedoch historisch betrachtet, scheint mir, dass man dieses Missverständnis von selbst klar verstehen kann. In dem Fall, in dem man Karate-Dō minimal sieht, kann man vielleicht sagen, dass man es nur "Faustmethode der leeren Hand und der leeren Faust" nennt. Aber von einem maximalen Blickwinkel aus möchte man die Kunst des Stocks als selbstverständliche Angelegenheit, Nunchaku, Tonfā, Titsū und dergleichen als miteingeschlossen seiende Dinge betonen.
Karate-Dō ist ein Sammelbegriff von einer zusammengesetzten Kampfkunst. Indem sie die Faustmethode zu ihrem Thema macht, sind [in ihr] die zuvor erwähnten Dinge enthalten. Was den Grund dafür betrifft, ist es [so], dass chinesische Kampfkünste, das heißt die Faustmethoden und die Waffen gebrauchenden, zuvor erwähnten Dinge, ungefähr zur gleichen Zeit über [das Meer] nach Okinawa kamen. Sie wurden den ursprünglichen Kampfkünsten Okinawas beigefügt und erforscht. Und sie wurden heute bis zum Karate-Dō entwickelt.
Es gibt Massen von anerkannten Stellen, [die besagen]: "In dem Fall, in dem die Faustmethode der leeren Hand und der leeren Faust, Karate, die Kunst des Stocks herausfordert, ist wohl der Vorteil der ersteren größer." Auch wenn, indem man gar keine Kenntnisse gegenüber der Kunst des Stocks hat, gesagt wird, dass man den Sieg erlangt, kann ich das jedoch nicht direkt bejahen. Wenn man annimmt, dass es Personen gibt, die solch große Worte äußern, kann ich, der Autor, nicht anders als "Selbstmorderzwinger" [zu ihnen] zu sagen. Gerade durch den Gegenstand "den Feind kennen und sich selbst kennen" bin ich überzeugt [davon], dass man eine vollkommene Kunst des Selbstschutzes erfassen kann. Wenn man das Erlernen einer vollendeten Faustmethode erwarten will, dann führt es wohl unvermeidlich zur notwendig näher gerückten Erforschung der Kunst des Stocks und weiterer Künste. Was das betrifft, ist es [so], dass die Worte unserer dummen Kollegen nicht notwendigerweise erforderlich sind.
Anmerkungen
Ausführliche Informationen zur Geschichte und Lehre des Bō im Shōtōkan-Ryū liefere ich in meinem Buch "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Über die Hintergründe zweier Stock-Kata aus dem Shōtōkan-Ryū informiere ich in meinem Buch "Shōtōkan – überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I).
Bibliografie
Bakumu-Sei (Sueyoshi Ankyō): Yōshun Zappitsu Sanjūgo. Karate no Denrai (Jō) (Vermischte Frühlingsschriften 35. Die Überlieferung des Karate (oberer [Teil])) (Artikel), Naha 1922
Yun Hŭibyŏng: Karate-Dō Taikan. Dainikan. Bō-Jutsu Kyōhan (Großer Spiegel des Karate-Dō. Band Zwei. Lehrnorm der Kunst des Stocks), Tōkyō 1948
Henning Wittwer