Hier möchte ich zwei weitere Erzählungen über zwei Karate-Adepten aus dem 19. Jahrhundert vorstellen. Als Helden in ihnen treten der halblegendäre Matsumura Sōkon 松村宗棍 und Asato Ankō 安里安恒 (1828–1906) auf. Sie beide gehören zu den maßgeblichen Ahnen des Shōtōkan-Ryū.
Beide Erzählungen stammen aus einem 1959 veröffentlichten Karate-Buch, dessen Herausgeber freimütig aus einigen früheren Veröffentlichungen anderer Autoren schöpfte. Daher können wir davon ausgehen, dass er die beiden folgenden Erzählungen nicht selbst erdichtete, sondern ebenfalls einer früheren Quelle zu verdanken hatte. Er äußerte sich nicht dazu, woher sie stammen. Aufgrund ihres Inhalts ist jedoch das Umfeld von Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) als Ursprung denkbar.
Die Beliebtheit des ersten Themas – Matsumuras Kampf gegen einen Stier – zeigt sich, wenn wir japanische Karate-Bücher durchstöbern. Verschiedene Fassungen von ihm finden wir nämlich in über einem Dutzend Werken. Bis in die Gegenwart sind Stierkämpfe, bei denen zwei Stiere aufeinander gehetzt werden, eine Attraktion in Okinawa und einigen anderen japanischen Präfekturen. In Okinawa werden solche Stierkämpfe u. a. Ushi-Āshi genannt. Wahrscheinlich trug das Vorhandensein der okinawanischen Stierkämpfe zur Verbreitung und Beliebtheit der folgenden Geschichte bei:
Die Faustmethode des Stiers
Von einem gewissen Matsumura von der Shōrin-Faustmethode wird gesagt, dass er ein Meister des okinawanischen Karate war. Indem er sich im Königspalast von Okinawa Gunst erwarb, bekam er in Shuri, das die Hauptstadt war, eine Villa.
Matsumuras bester Schüler war Asato. Und Asatos Schüler war der verstorbene Herr Funakoshi Gichin.
Matsumura hörte das Gerücht, dass der König Ryūkyūs einen Stier, den man "wilder Stier" nannte, käuflich erwarb.
Der tobende Stier war ein unbrauchbares Ding. Er glaube, dass es bald [dazu] kommt, dass [der König] Matsumura ruft und sagt: "Versuche deine Faustmethode mit dem Stier!"
Deswegen ging Matsumura fast jeden Tag zum Kuhstall und schlug mit einem Eisenfächer fest auf die Stirn des Stiers.
Schließlich hatte der Stier, dem Winken von Matsumuras Hand folgend, sich fürchtend, [schon] seine Vorderbeine eingeknickt.
Eines Tages kam ein Bote aus dem Königspalast zu Matsumuras Aufenthaltsort. [Und er nahm Matsumura mit zum König.]
Als er ankam, war der genannte wilde Stier in den Garten herausgeführt worden.
Der König befahl Matsumura: "Versuche mit diesem Stier zu kämpfen!" Matsumura war einverstanden und erhob sich.
In die rechte Hand nahm er einen Fächer und lief schnurstracks auf die Seite des Stiers. Als er plötzlich die rechte Hand hochschwang, schrie der Stier auf und knickte seine Vorderbeine ein. Und seine Hinterbeine einknickend, hatte er sich [schon] niedergesetzt.
Der König sah es, verblüfft dastehend.
Er war erstaunt: "Ich hörte, dass Matsumura ein Meister des Karate ist. Aber dass er sogar einen Stier erzittern lässt …"
Eine wichtige Botschaft dieser Erzählung ist, dass vorausschauendes und taktisches Handeln wesentliche Bestandteile des Karate sind. Nebenbei offenbart sie, dass "sportliche Fairness" dagegen kein zwingender Gesichtspunkt des Karate ist.
In unserer zweiten Geschichte tritt ein unbenannter Held auf, und die Lehre wird am Ende gleich mitgeliefert:
Das letzte Geheimnis des Makiwara
Bei diesem Matsumura war ein Schüler. Unter der großen Menge von Schülern war er der am langsamsten fortgeschrittene Mann.
Er hatte ein schlechtes Gedächtnis. Eine Kata lernte er gerade noch. Bunte Techniken wie bei den anderen Schülern wurden von ihm überhaupt nicht gelernt. Von früh bis spät stieß er ein Makiwara, stieß er in einen Sandkasten, und hob er kleine Steine hoch.
Nachdem Matsumura verstorben war, vergaß jeder Schüler diesen Mann.
Eines Tages wurden Matsumuras Schüler von einem Beamten aus dem Satsuma-Lehn gerufen, und ihnen ist ein Karate-Kampf befohlen worden.
Der Gegner, [so] sagt man, war der Ōshima [大島] und so weiter heißende Karate-Fachmann. Jeder biss sich an diesem Ōshima die Zähne aus.
Bei Matsumura gab es einen besten Schüler, aber er hatte Shuri verlassen.
Der vergessene, dumme Schüler sprach [frei] heraus: "Ich selbst werde zum Ersatz der Gegner von Ōshima."
Alle verlachten es. Da aber auf jeden Fall jemand fortgehen musste, schickten sie diesen Mann.
Ōshima versuchte sich diesem Mann gegenüberzustellen. Aber plötzlich war er [schon] abgesprungen.
Er sagte: "Verloren."
Wieso? Niemand verstand es.
Als sie Ōshima fragten, sagte er:
"Was, Ihr versteht nicht? Wenn ich hier zustieß, kam der Gegner und schlug meine stoßende Hand. Wenn ich trat, schien er mein tretendes Bein treten zu kommen. Es ist [so], dass ich wirklich nicht gegen ihn ankomme."
Dieser Mann antwortete [höflich] so:
"Ich lerne nicht gut. Wenn daher mein Gegner nur zustoßen kam, stieß ich gegen seine zustoßen kommende Hand. Wenn er zutreten kam, hatte ich die Absicht, dieses Bein zu treten. Ich sah den Gegner mit der Einbildung eines Makiwara."
Asato, der bester Schüler von Matsumura, der diese Geschichte hörte, klatschte in die Hände:
"Das ist das letzte Geheimnis des Karate."
Selbstverständlich ist es nicht so, dass dem betreffenden Mann das letzte Geheimnis etwas ausmachte! Er stieß nur jeden Tag den Makiwara-Gegner und machte Trittübungen. Aber wenn er sich [dann] auch dem Gegner zuwandte, ist der Gegner inzwischen irgendwie dem Makiwara gleich geworden.
Problematisch ist an dieser Erzählung, dass das Satsuma-Lehen bereits 1871 abgeschafft worden ist. Nach allen bisherigen Erkenntnissen lebte Matsumura aber sicher mindestens bis in die 1880er Jahre hinein. Aus historischer Sicht passt der angegebene zeitliche Rahmen also nicht.
Schließlich ist die Hervorhebung der Übertragungslinie "Matsumura – Asato – Funakoshi" in den beiden Geschichten erwähnenswert.
Anmerkungen
Leben und die Lehre von Matsumura Sōkon behandle ich ausführlich in "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I) und in "Karate. Kampfkunst. Hoplologie".
Leben und die Lehre von Asato Ankō behandle ich ausführlich in "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen" (Band I) sowie in "Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band II".
Quelle
K. Hashiguchi (Hrsg.): Von den ersten Schritten bis zu den inneren Geheimnissen: Kurse im Karate-Dō (Shoho yori Okugi made. Karate-Dō Kōza), Tōkyō 1959
Henning Wittwer