Geschichtliche Hintergründe zum Funakoshi-Denkmal in Kamakura
Funakoshi Gichin 船越義珍 (1868–1957) bewarb und lehrte sein Karate ab 1922 in der japanischen Hauptstadt Tōkyō. Auf diese Weise beeinflusste er das Leben tausender Menschen, die sein Karate lernten,
ergründeten und ausübten. Nach Funakoshis Tod planten einige seiner Schüler die Errichtung eines Gedenksteins für
ihren Lehrer, der schließlich in Kamakura eingeweiht wurde.
Hierin möchte ich die historischen Umstände jenes Denkmals etwas näher beleuchten. Am 6. Dezember 1968 erschien im japanischsprachigen Teil der Zeitung „Hawaiʻi Times“ ein Artikel über seine
Einweihung. Diese Veröffentlichung in Hawaiʻi zeugt davon, dass sie als ein öffentliches und überregionales Ereignis erachtet wurde. Dem ursprünglichen Artikel war kein Foto beigefügt. Eckige
Klammern und Fußnoten fügte ich in meiner Übersetzung zum besseren Verständnis ein:
„Vater des Karate“
Der Gedenkstein von Herrn Funakoshi Gichin
(Tōkyō) Am ersten Tag [des Monats] wurde von ein Uhr dreißig nachmittags an die Errichtungsfeier sowie die Enthüllungsfeier des Gedenksteins von Herrn Funakoshi Gichin, der „Vater des
Karate der Hauptinsel“ genannt wird, im „Tempel der vollständigen Erkenntnis“ [Engaku-Ji 円覚寺 ] in Kamakura Nord durchgeführt. Diesen Gedenkstein errichteten die Mitglieder des
„Kameradschaftlichen Vereins der Kiefernwoge“ , die die Strömung von Herrn Funakoshi erbten, [mit der Aussage] „Wir wollen das gute Werk von Herrn Funakoshi unterstützen und der Nachwelt seine
große Tat hinterlassen.“
Seit vorherigem Jahr kamen Gespräche über das Errichten des Gedenksteins auf, und jetzt endlich sieht man ihn wirklich. An diesem Tage waren ungefähr fünfhundert Personen anwesend,
angefangen mit seinen Schülern, die [das Alter von] sechzig [Jahren] überschritten, [bis zu] den Karate-Klubs und dergleichen jeder Hochschule aus der Hauptstadt, Keiō, Waseda, Universität Tōkyō,
Takushoku-Universität usw., und dazu noch [den Karate-Klubs] der vorstädtischen Hochschulen, die die Lehre von Herrn Funakoshi empfingen. Es waren geeignete Gesichter, um der vergangenen Tage des
Herrn Funakoshi zu gedenken.
Die Enthüllung wurde durch die Hände von Blutsverwandten, des zweiten Sohns von Herrn Funakoshi, Herrn Yoshio, und anderen, durchgeführt. Danach sprach der Vertreter des „Kameradschaftlichen
Vereins der Kiefernwoge“, Obata, ein Dankeswort: „Wir, alle seine Schüler, folgen dem Willen von Meister Funakoshi und möchten Karate-Dō in der Nachwelt prächtig fortsetzen.“ Auf dem Gedenkstein
wurde „Karate ist ohne ersten Zug“ [Karate ni Sente nashi] eingekerbt, [was] eine hinterlassene Unterweisung von Herrn Funakoshi ist. Nach der Feier, bei der sich die anwesenden Personen
gemütlich über ihre Erinnerungen an die vergangenen Zeiten von Herrn Funakoshi unterhielten, boten alle seine Schüler vor dem Gedenkstein Kata des Karate dar und gedachten des
Verstorbenen.
Aus dem Artikel geht hervor, dass 1967 mit der Planung des Funakoshi-Denkmals begonnen wurde und etwa fünfhundert Menschen an seiner Einweihung teilnahmen. Vor allem entstammten die Teilnehmer
offenbar universitären Karate-Klubs, in denen Funakoshis Karate ausgeübt wurde. Enthüllt wurde das Denkmal laut dem Artikel von Funakoshis zweitem Sohn, Yoshio. Funakoshis ältester Sohn,
Yoshihide (1901–1961), und sein dritter Sohn, Yoshitaka (1906–1945), der sein Nachfolger als Karate-Lehrmeister des Shōtōkan werden sollte, waren bereits verstorben. Daher standen sie für die
Planung und Einweihung nicht mehr zur Verfügung.
Der Ablauf jener Einweihungsfeier begann mit der Enthüllung des Gedenksteins durch Funakoshi Yoshio. Dieser folgte eine kurze Rede von Obata Isao 小幡功 (1904–1976), einem frühen Schüler von
Funakoshi aus dem Karate-Klub der Keiō-Universität. Dass Obata namentlich im Artikel erwähnt wird, ist ein Hinweis auf das Ansehen, das er unter Funakoshis Schülern genoss, und möglicherweise
auch auf den Einfluss, den er selbst in der damaligen Karate-Welt ausüben wollte. Weiterhin wurden Erinnerungen an Funakoshi ausgetauscht und von scheinbar allen anwesenden Schülern Kata
vorgeführt. Schließlich gehörte noch – wie der Artikel zeigt – das Verfassen eines Presseberichts zum geplanten Ablauf. Dadurch ergab sich die Möglichkeit, interessierte Laien über das
Funakoshi-Karate zu informieren. So wurde deutlich hervorgehoben, dass dieses Karate insbesondere im Umfeld von Universitäten gepflegt wird und dem Prinzip „ohne ersten Zug“ zu sein folgt.
Außerdem wurde betont, dass es sich nicht um das Karate einer beliebigen Person handelte, sondern um das des „Vaters des Karate“.
„Vater des Karate“?
Insbesondere die Formulierung „Vater des Karate“ (Karate no Chichi 空手の父) verdient eine nähere Betrachtung. Ganz grundsätzlich schreibt Funakoshi Gichin etwa in seinem Buch „Einführung in das Karate“ (Karate Nyūmon) von 1943, dass meistens nicht bekannt sei,
wer der oder die Gründer (Kaiso 開祖) des historischen Karate war oder waren. Darüber hinaus berichtet Funakoshi wiederholt von seinen eigenen Karate-Lehrern, Asato Ankō 安里安恒 (1828–1906)
sowie Itosu Ankō 糸洲安恒 (1831–1915), und nennt die Namen der Karate-Adepten, die wiederum sie unterrichteten. Demzufolge stellt sich Funakoshi selbst nicht als „Vater“ im Sinne von „Gründer“
historischer Arten von Karate dar. Im Gegenteil, er sieht sich wenigstens in dritter oder vierter Generation bestimmter Karate-Übertragungslinien.
Beträfe die Formulierung allein die Bezeichnung „Karate“, so würden wir in Funakoshis „Essay über Karate“ von 1942 fündig. Darin gibt er sich selbst nämlich als der „Vater“ (Ōya 親) der
Namensgebung von „Karate“ mit der Schreibweise 空手 („leere Hand“) aus. Aus chronologischer Sicht lässt sich die 空手 geschriebene Bezeichnung „Karate“ jedoch bereits in einem vermutlich in Okinawa
verfassten, handschriftlichen Manuskript von Hanashiro Chōmo 花城長茂 (1869–1945) aus dem Jahr 1905 nachweisen. Funakoshis
diesbezügliche Aussage lässt vermuten, dass er diesen Umstand vielleicht überging oder nicht kannte.
Bezögen wir uns ausschließlich auf die im Text zu lesende Formulierung „Vater des Karate der Hauptinsel“ und wäre mit ihr der dortige Beginn eines öffentlichen und längerfristigen, geordneten und
planmäßigen Unterrichts gemeint, dann wäre nach derzeitigem Kenntnisstand tatsächlich Funakoshi derjenige, dem diese Ehrenbezeichnung zustünde. Denn ab dem Sommer 1922 unterrichtete er sein
Karate aktiv in Tōkyō, wie der Zeitzeuge Gima Shinkin 儀間真謹 (1896–1989) erzählt. Motobu Chōki 本部朝基 (1870–1944) begann laut eigener Aussage im Frühling 1923 damit, Karate im Raum Ōsaka und
Hyōgo einzuführen. D. h. als erstes unterrichtete Funakoshi 1922 Karate auf der japanischen Hauptinsel, und Motobu tat es ihm ab dem Folgejahr gleich.
Ausgeblendet werden müssten bei dieser Betrachtungsweise verschiedene kleinere und größere Karate-Vorführungen, die zuvor auf den japanischen Hauptinseln stattfanden. Auch das eher private
Karate-Treiben einiger Personen aus dem Gefolge des nach Tōkyō umgesiedelten, ehemaligen Königs von Ryūkyū müsste dabei vernachlässigt werden.
Für Schüler, die Funakoshis Andenken öffentlich hochhalten, stellt der Einsatz der Ehrenbezeichnung „Vater des Karate“ einerseits eine sein Lebenswerk würdigende, historische Einordnung ihres
Lehrers dar. Andererseits hilft er zugleich eben jenen Schülern, da sie auf diese Weise als Nachkommen des Vaters in Erscheinung treten. Somit erhält ihr eigenes Wirken den Schimmer von
Rechtmäßigkeit und Hochwertigkeit.
Anmerkungen
Funakoshi Gichins „Essay über Karate“ von 1942 übersetze und bespreche ich in „Shōtōkan - überlieferte Texte & historische Untersuchungen. Band III“.
Meine vollständige Übersetzung von Funakoshis „Einführung in das Karate“ (Karate Nyūmon) von 1943 ist unter dem Titel „Untersuchungen zu Funakoshi Gichins Einführung in das Karate“ erschienen.
Die geschichtlichen Hintergründe der Bezeichnung „Karate“ einschließlich der Rolle von Hanashiros Manuskript lege ich in meinem Buch „Karate. Kampfkunst. Hoplologie.“ dar.
Bibliografie
S. Gima / R. Fujiwara: Kindai Karate-Dō no Rekishi o kataru (Gespräche über die Geschichte des neuzeitlichen Karate-Dō), Tōkyō 1986
C. Motobu: Okinawa Kenpō. Karate-Jutsu. Kumite-Hen (Die Faustmethode aus Okinawa: Karate-Jutsu. Band zum Kumite), Ōsaka 1926
G. Nakasone: Karate-Dō Taikan (Große Betrachtung des Wegs des Karate) (kommentierte Neuauflage), Ginowan 1991
Henning Wittwer